Rosa – ein Beitrag zum Projekt „Gegen das Vergessen“

Die folgende Geschichte ist inspiriert von einer Dokumentation, die ich vor einigen Jahren gesehen habe. Sie spricht ein Thema an, über das sowieso nur äußerst wenig gesprochen wird. Es wird erschwert dadurch, dass die betroffenen Frauen einfach nicht in der Lage sind, darüber zu sprechen. Es geht um den Zwang zur Prostitution – und zwar vorrangig für die männlichen Lagerinsassen.

Ein großes Dankeschön an Sylvia für das Initiieren dieses Projekts und die Korrekturlesung der Geschichte. Vorhandene Fehler und Ungereimtheiten gehen trotzdem allein auf mein Konto.


Rosa

Rosa war eine heranwachsende junge Frau, die mit ihrer großen Familie in einem kleinen Städtchen lebte. Auch ihr Freund Georgi wohnte dort. Bald wollten sie heiraten. Wenn nur der Krieg bald vorbei wäre!

Wie jeden Tag ging Rosa auch an diesem Abend gegen 22:00 schlafen. Sie wusste nicht, dass sie nie wieder eine ruhige Nacht haben sollte.

Kaum war sie eingeschlafen, hörte sie ein ungeduldiges Rütteln an der Haustür. „Aufmachen! Alles raus hier! Mitkommen!“ Alle waren in ihren Schlafsachen und konnten kaum etwas anderes greifen. „Oh, was für ein hübsches Gesichtchen haben wir denn hier? Willst Du direkt meinen harten Knüppel spüren?“, grinste der Uniformierte und streichelte mit einem lüsternen Grinsen seinen Schlagstock. Rosa lief es eiskalt den Rücken herunter.

Sie wurden in einen nahestehenden Waggon getrieben. Die Tür schlug zu. So verbrachten sie die Nacht. Viele bekannte und unbekannte Gesichter. Alle voller Angst, alle voller Zweifel, alle voller unguter Erwartungen. Natürlich hatten sie von den Konzentrationslagern gehört, von den Abtransporten, von den Gräueltaten. Aber konnte das wahr sein? Konnten Menschen anderen Menschen so etwas antun? Rosa war jung und kräftig. Sie würde arbeiten können. Aber würden ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister das auch ertragen? Sie würde versuchen, alles für sie zu tun. Wenn nur der Krieg bald vorbei wäre!

Im Lager angekommen, wurden die meisten zum Inspizieren gescheucht. Einige sehr Alte und Schwache ließ man am Waggon sitzen – auch Rosas Oma. Sie sollte sie nie wieder sehen. Drei glattgestriegelte Männer in weißen Kitteln unternahmen die Inspektion. „Tauglich!“ „Tauglich! „Tauglich!“, hieß es immer wieder. Selten rief einer der Männer hoch erfreut: „Ah, dort hin!“

Rosa war an der Reihe. Einer der Männer strich ihr über die Brüste und knetet sie. Er fasste ihr unter den Rock und rubbelte genussvoll. Rosa wurde ausgesondert. Panisch sah sie sich in einer Gaskammer um Luft ringen. „Ich kann arbeiten. Bitte, bitte lassen sie mich bei meiner Familie.“, bat und bettelte sie, bis sie ein harter Faustschlag ins Gesicht traf und der schmerzvolle Nachhall in ihrem Kopf alle anderen Gedanken auslöschte.

Gemeinsam mit ein paar anderen jungen Frauen wurde Rosa zu einer separat stehenden Baracke geführt. Dort machte alles einen sauberen, ja fast keimfreien Eindruck. Den Frauen wurde erklärt, welche Aufgabe sie ab nun zu erfüllen hätten. Rosa verstand kein Wort. Noch immer dröhnte ihr Kopf. Nur an zwei Regeln konnte sie sich erinnern: „Kein Lärm!“ und „Spülen, spülen, spülen!“ Aber sie verstand sie nicht.

Am Abend kam ein Mann zu ihr und nahm sie in Besitz. Und dann noch einer. Und dann noch einer. Fünf, manchmal mehr Männer konnten es am Abend werden. Und danach hieß es immer wieder spülen, spülen, spülen – gegen Infektionen, gegen eine Schwangerschaft. Beides wäre das definitive Ende gewesen.

Nach und nach begriff Rosa, wohin sie geraten war. Eigentlich führte sie kein schlechtes Leben. Alles war sauber und fast nett eingerichtet, es gab keine körperlich zu schwere Arbeit. Und: es gab genug zu essen. Welcher Mann möchte schon ein Gerippe beschlafen. Tagsüber galt es, sich gut auszuruhen, um für die Anstrengungen der Abende gewappnet zu sein. Sollte sich auch nur ein Mann über sie beschweren, würde sie aus der Baracke fliegen. Wenn nur der Krieg bald vorbei wäre!

Rosa fürchtete sich vor jedem Abend mehr als vor allen vorangangenen. Es widerte sie an. Sie verdammte sich dafür, dass ihr Körper trotz aller Abneigung auf natürliche Art reagierte. Sie hasste sich dafür, dass sie diesen Männern gab, was sie eigentlich Georgi geben wollte. Das Essen musste sie in sich hineinquälen – sie war so voller Ekel.

Die Männer waren nicht bösartig. Sie verrichteten eine Art Notdurft. Manche verliebten sich sogar in „ihre Frau“ und brachten kleine Geschenke mit. Sie hatten sich den Besuch in der Baracke hart erarbeitet oder teuer erkauft. Manche von ihnen kamen immer wieder. Wenn sie nicht mehr kamen, wusste jeder Bescheid. Nur einer kam nie: Georgi. Doch die Hoffnung, ihn bald wiederzusehen, hielt Rosa aufrecht. Sie hatte gelernt, die Männer dadurch zu überstehen, dass sie in Gedanken zu Georgi an ihren Lieblingsplatz reiste.

Rosa dachte oft an ihre Familie. Sie konnte nichts für sie tun. Sie konnte nur hoffen und beten, dass sie sich gegenseitig unterstützen könnten. Hier in der Baracke war sie ganz allein. Wenn nur der Krieg bald vorbei wäre!

Eines Tages kamen gleich mehrere Männer zu ihr. Sie hatte gelernt, sich zu ergeben. In Erwartung des Üblichen schloss sie die Augen und versuchte, sich auf die Reise zu Georgi zu begeben. Da wurde sie gerüttelt. „Es ist vorbei. Du bist frei. Geh!“ Geh? Ja, wohin sollte Rosa gehen?

Lange Zeit suchte sie nach ihrer Familie. Sie fand niemanden. Sie suchte nach Georgi. Sie fand ihn nicht. Eines Tages erhielt sie einen Brief – den letzten, den sie ertragen konnte. Georgi hatte das Lager nicht überlebt.

Rosa fiel in eine Starre. Wenn nur der Krieg bald vorbei wäre!

Rosa wurde krank. Sie konnte Wirklichkeit und Traum nicht mehr unterscheiden. Sie konnte nicht mehr für sich selbst sorgen. Sie redete nicht mehr. Sie schlief nicht mehr. Vom Arzt bekam sie ein starkes Beruhigungsmittel verschrieben. Eine Tablette am Abend sollte ihr beim Einschlafen helfen.

Rosa fühlte sich leer. So leer wie das Tablettenröhrchen neben sich. Leicht und frei machte sie sich auf den Weg zu Georgi. Sie musste ihm eine Nachricht überbringen: Der Krieg ist vorbei!

Es war niemand mehr da, der um Rosa weinte.


Wir sehen uns auf dem Weg.
Let’s go!
Belana Hermine

57 Gedanken zu “Rosa – ein Beitrag zum Projekt „Gegen das Vergessen“

  1. Diese Geschichte ließ mich gestern Abend frösteln.
    Ich danke Dir so sehr, dass Du dieses Thema aufgegriffen hast!

    Ich reblogge am Abend – ich bin unglaublich berührt.

    DANKE
    Herzliche Grüße
    Sylvia

    Like

Hinterlasse eine Antwort zu Gegen das Vergessen – Gegen die Schuld – TextSchmiede Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..