Das Geheimnis der Kleinen

Das Geheimnis der Kleinen

Wie gewöhnlich war ich auf meinem Weg von der Arbeit nach Hause. Da rannte ein Mädchen – vielleicht war sie zehn oder elf – geradewegs auf mich zu. Explosiv. Als wäre der Teufel hinter ihr her. Nein, als wäre sie selbst der Teufel. Ein Zusammenprall war nicht zu vermeiden. Sie schlug mir auf den Magen und stach mir ins Herz. Fast war es, als wäre sie durch mich hindurch gesaust. So plötzlich, wie sie aufgetaucht war, war sie wieder in der Menge verschwunden.

Ich hatte sie noch nie hier gesehen, obwohl ich diesen Weg fast jeden Tag zu dieser Uhrzeit gehe. War sie noch nie hier gewesen oder hatte ich sie nur noch nie wahrgenommen? Diese Frage ließ mir keine Ruhe mehr.

Am nächsten Tag auf dem Heimweg hielt ich nach ihr Ausschau. Sie hüpfte um einen Baum herum. Ich ging auf sie zu. Kaum hatte sie mich bemerkt, rannte sie wie ein Wirbelwind davon. Wie sollte ich etwas über sie erfahren, wenn ich es nicht schaffte, mit ihr zu reden?

Ein paar Tage später sah ich sie, wie sie sich im Kreis um den Baum herumdrehte. Immer und immer wieder, ohne müde zu werden. Vorsichtig näherte ich mich ihr. Ich wollte sie nicht erschrecken. Trotzdem sprang sie entsetzt zur Seite, als sie mich sah.
„Wohnst du hier?“, versuchte ich, ein Gespräch zu beginnen.
Verschämt deutete sie auf das gegenüberliegende Haus und huschte fluchtartig davon.

Wie sollte ich herausfinden, wer dieses Mädchen ist, wenn sie immer vor mir davonlief? Also versuchte ich, etwas über die Bewohner des Hauses zu erfahren. Und – ich fand eine Zeitungsanzeige.

Als ich sie das nächste Mal sah, wollte ich kein Risiko eingehen. Ich zeigte ihr direkt die Anzeige und fragte: „Hat das mit dir zu tun?“
„Meine Mutter!“, sagte sie.
Schon war sie wieder verschwunden.

Ich war ratlos. Lange Zeit sah ich sie nicht. Eines Tages fiel mir auf, dass oben im Baum etwas Buntes blinkte. Sie wiegte sich in den Ästen. Zumindest konnte sie von dort nicht einfach weglaufen. Vorsichtig näherte ich mich ihr.
„Komm doch herunter. Dann können wir ein bisschen reden“, forderte ich sie auf.
„Geh lieber weg. Ich bin ganz böse. Ich bin der Teufel“, erwiderte sie.
„Ach, und von dort oben kannst du deine Bosheiten besser auf alle hier unten streuen?“, forderte ich sie heraus.
Das schien gewirkt zu haben. Behände kletterte sie vom Baum herunter.
„Du solltest mir nicht zu nahe kommen“, war ihre Warnung.
Ich war erstaunt: „Warum?“
„Ich bringe allen Unglück. Meine Verwünschungen gehen immer in Erfüllung“, warnte sie wieder.
„Du bist eine kleine Abenteurerin, oder?“, wollte ich wissen.
„Nein, ich bin böse“, meinte sie überzeugt.
Weg war sie.

Es dauerte nahezu ewig, bis ich sie wiedersehen sollte. Ich dachte schon, ihr wäre etwas zugestoßen. Bis ich sie eines Tage in Gedanken versunken am Baum sitzen sah. Wie konnte ich mich ihr nähern, ohne sie wieder aufzuscheuchen? Diesmal wählte ich die offensive Variante. Schon von weitem winkte ich ihr zu: „Ich habe eine geheime Botschaft für dich.“

Ein fragender, neugieriger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Aber sofort gab sie wieder vor, völlig unbeteiligt herumzusitzen. Sie lief aber auch nicht weg. Ja, sie ließ es sogar zu, dass ich mich neben sie setzte.

Vorsichtig flüsterte ich ihr ins Ohr: „Sie hat dich geliebt.“
„Nein, hat sie nicht. Ich bin der Teufel!“ Sie ließ sich nicht von ihrer Meinung abbringen.
Ich nahm sie vorsichtig in den Arm und wiederholte: „Sie hat dich geliebt, geliebt, geliebt!“
„Nein! Ich habe es ihr gewünscht“, platzte es aus ihr heraus. Wie der Einschlag einer Bombe. Schockstarre. Dann – voller Wucht – brachen alle Dämme. Eine Sturzflut von Tränen riss uns fort.

Wir sehen uns auf dem Weg.

Let’s go!
Belana Hermine

13 Gedanken zu “Das Geheimnis der Kleinen

  1. Ich habe Gänsehaut. Was für eine berührende Geschichte mit vielen Fragen, die für mich bleiben. Interpretationen, die meiner Phantasie überlassen sind.
    Verwünschungen – ein großes Thema. Man sollte niemals jemanden verwünschen. Das kann schlimme Folgen haben, doch leider begreifen das nicht viele. Es ist den meisten Menschen zu spirituell.

    Worte haben Macht – ob nun spirituell oder nicht.
    DANKE
    Herzliche Grüße
    Sylvia

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  2. ….zum Wohle von allen und zum Schaden von keinem ….
    niemals Flüche oder Verwünschungen manifestieren ….
    es gibt sie sie sind wahr und wirklich ….

    Im Namen das Alleinen:
    Loese du, wo es der Loesungen und Wunder bedarf.
    In Gottes Namen!
    Segen ….
    M.M.

    Gefällt 1 Person

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